RNZ-Selbsthilfeserie von Kirsten Baumbusch (ab 31.3.2000)
Borderline-Patienten: Störung zwischen Neurose und Psychose (9.12.2000) Zuhause bei Dr. Jekyll und Mister HydeSelbsthilfegruppe für Angehörige von Borderline-Patienten - Störung zwischen Neurose und Psychose Ab und zu hatte Sandro Bernhard (Namen geändert) das Gefühl nicht mit seiner Freundin Sabine zusammen zu sein, sondern mit Dr. Jekyll und Mister Hyde. Eben noch war die junge Frau das zärtlichste Wesen, das man sich vorstellen kann, ein paar Sekunden später schon attakiert sie ihren Partner voller Hass, beschimpft ihn und schlägt um sich. "Ich hatte das Gefühl, dass sie die Grenze zwischen mir und sich nicht ziehen konnte", erklärt er. "Es gab nur ihre Realität und ihre Wahrheit". Borderlinestörung heißt diese Krankheit an der Grenzlinie (Borderline) zwischen Neurose und Psychose. Die Betroffenen neigen dazu, Impulse ohne Berücksichtigung von Konsequenzen auszuagieren und leiden unter häufigen Stimmungsschwankungen. "Manchmal hatte ich das Gefühl, sie will alles zerstören", beschreibt Bernhard. Gleichzeitig jedoch spürte er, dass diese aggressive Wut in allererster Linie ihr selber galt. Ein in frühster Kindheit tief verletztes Wesen, mit einem bis in die Grundfeste erschütterten Vertrauen zum Vorschein zu kommen darunter durchzuscheinen. Furchtbar für die Kranken und fast ebenso schlimm für die Angehörigen. Dazu kam ein beträchtlicher Realitätsverlust. Ein gestörtes Selbstbild ist charakteristisch für diese Krankheit, die als eine der am verbreitetsten psychischen Störungen überhaupt gilt. Häufig ist dabei auch die Neigung zu intensiven, aber unbeständigen zwischenmenschlichen Beziehungen, die immer wieder zu tiefen Gefühlskrisen führt und mit Selbstverletzung und Suizidversuchen einher gehen kann. Ein chronische Gefühl von Leere und Langeweile, das beschreiben viele "Borderliner". Dazu kommt häufig auch ein Suchtverhalten wie Alkohol- oder Drogenmissbruch, Spielsucht und Ess-Störungen. Als Sandro Bernhard im Sommer nicht mehr weiter wusste, entschloss er sich Leidensgenossen zu suchen. "Ich war so verletzt und verstand die Welt nicht mehr", schildert er im RNZ-Gespräch seinen Zustand. Seither trifft sich im Heidelberger Selbsthilfebüro, Alte Eppelheimer Straße 38, an jedem dritten Donnerstag im Monat, um 18 Uhr eine Gruppe . Anmeldung und Information ist unter Telefon 06221/189042 möglich. Erfahrungen austauschen, sich gegenseitig Mut machen und Weg suchen, um mit dem Borderline-Syndrom umzugehen, das ist erklärtes Ziel. Das Leben in Angst, das kennen alle von ihnen. Weiß doch niemand, was der Betroffene das nächste Mal zum Anlass nehmen wird, um "Auszuflippen", sogar mitten in der Nacht sind die Angehörigen vor den Attacken nicht sicher. Schlimmes erlebt haben fast alle, das reicht von verbalen Ausfällen bis hin zur brutalen körperlichen Gewalt. Bei einem Mitglied der Gruppe war der Bruder sogar eines Tages so außer sich, dass er das Haus anzündete. Oft bemerken die Arbeitskollegen oder das weitere Umfeld gar nichts von der Krankheit. Äußert sie sich doch fast ausschließlich im engen Bereich der Angehörigen und Partner. "Es ist ein Teufelskreis von Selbsthass und Aggression", beschreibt Sandro Bernhard. Manchmal hatte er den Eindruck, seine an Ess-Brech-Sucht leidende Freundin könne nichts Lebendiges ertragen, weder als Nahrungsmittel noch in Beziehungen. Als Ursachen kommen neben Entwicklungsstörungen in den ersten drei Jahren auch Misshandlung, emotionale Vernachlässigung und traumatische Erlebnisse in Frage. Die Chance auf eine völlige Heilung ist eher gering. Derzeit gehen Experten davon aus, dass bei rund zehn Prozent die Störung im Laufe der Zeit so weit zurückgeht, dass die Diagnose Borderline nicht mehr zutrifft. Keine rosigen Aussichten also für die Angehörigen. Trotzdem war die Selbsthilfegruppe für Sandro Bernhard ungemein hilfreich: "Zu wissen, ich bin nicht allein, das war schon viel". Kirsten Baumbusch, RNZ vom 9./10. Dezember 2000
Alkoholabhängige
Männer: Aushalten bis zur Selbstaufgabe ist der falsche Weg (5.9.2000) Es war ein langer Weg, den Waltraud Strohalm und ihre Leidensgenossinnen von „Frauen helfen Frauen" zurückgelegt haben. Als Partnerinnen alkoholabhängiger Männer gab es für sie allzu lange nur eins: Aushalten und abpuffern bis zur Selbstaufgabe. „Das war der falsche Weg", weiß die zierliche Frau heute. Viel früher hätte sie erkennen müssen, dass sie längst selbst Hilfe brauchte. „Der Abhängige", so weiß sie, „hat immer zwei Problemlöser: Den Alkohol und seine Frau". Der Abstand von fast zehn Jahren ermöglicht ihr heute diesen Scharfblick auf die Problematik von damals. Doch Waltraud Strohalm möchte die Erkenntnis nicht für sich behalten. Vielmehr hat sich aus der Angehörigen-Gruppe der Suchtklinik, in der ihr Mann vor zehn Jahren war, der Förderkreis „Frauen helfen Frauen" herauskristallisiert. Der Verein wiederum hat sich nun vorgenommen, Frauen mit einem alkoholabhängigen Partner möglichst frühzeitig zu erreichen, sie zu unterstützen und die Bildung von Selbsthilfegruppen anzuregen. Die Kontaktgruppe trifft sich immer am ersten Dienstag im Monat um 19:30 Uhr im Lutherhaus Schwetzingen und ist unter Telefon 0 62 02 / 1 32 98 zu erreichen. „Wir alle haben die Erfahrung gemacht, dass wir trotz größter Mühe unserem alkoholabhängigen Partner nicht helfen konnten", beschreibt Waltraud Strohalm ihre Situation Mitte der 80er Jahre. Erst im Austausch mit anderen betroffenen Frauen erlebte sie Offenheit und Verständnis für ihre Lage. „Die Frauen verdoppeln ihre Fürsorge, je tiefer der Mann sinkt", hat Karl Lask, der frühere Leiter der Suchtklinik Haus Burgwald erkannt. Weil sie nur noch daran denken, wie sie ihrem Partner helfen können, geben sie ihre eigenen Interessen auf. Nicht selten spielen hier auch alte Erziehungsmuster und Rollenklischees hinein, dass sich Frauen nur dann wertvoll und liebenswürdig fühlen, wenn sie selbstlos für andere da sind. Ihre Lektion in Nächstenliebe haben sie lange schon intus, dass auch Selbstschutz dringend nötig sein könnte, kommt ihnen oft nicht in den Sinn. Sie befinden sich in einem fatalen Teufelskreis. Ihrem Partner nehmen sie immer mehr ab, laden sich selbst immer mehr auf, verheimlichen das Trinken gegenüber der Außenwelt, werden selbst krank und verzweifeln am Ende, weil all ihre Sorge doch nichts genützt hat und der Abhängige all seine Beteuerungen und Versprechungen doch nicht hält. Das Selbstwertgefühl ist am Boden. „Wenn er doch alles hat, warum braucht er dann den Alkohol", hat sich auch Waltraud Strohalm immer wieder frustriert gefragt. Auch bei dem betroffenen Mann wendet sich nichts zum Besseren. Er verliert die Fähigkeit, kontrolliert zu trinken, Alkohol beherrscht sein ganzes Leben, es kommt zu Aggressionen, die sozialen Folgen werden immer gravierender, Schulden drücken und der Verfall der Persönlichkeit wird immer offensichtlicher. Lask stellt nun eine relativ simple These auf: Nur wenn die Frauen ihr Verhalten ändern und mehr an sich denken, werden ihre süchtigen Partner wachgerüttelt. Spätestens dann, wenn der Alkoholismus sich massiv auf das Leben der Familie auszuwirken beginnt, sollten sie erkennen, dass auch sie Unterstützung brauchen. Nur dann wird auch der Mann gezwungen, sich mit seinem Problem auseinander zu setzen, denn zumeist will er seine Partnerin nicht verlieren. „Wenn die Frau ein Stück weit wegrückt, kann er am ehesten spüren, wo er steht", summiert Waltraud Strohalm ihre Erfahrungen, „das heißt nicht, dass wir an die Frauen appellieren, ihre Männer zu verlassen oder sie fallen zu lassen". Doch, das haben die Frauen in der Gruppe gelernt, auch sie brauchen einen Platz, wo sie über sich und ihre Schwierigkeiten sprechen und langsam Lebensfreude zurückgewinnen können. Erschwert wird ihre Lage oft dadurch, dass Alkoholismus immer noch als Schande gilt und mit einem Tabu belegt ist. Dabei, so weiß Waltraud Strohalm, sterben in der Bundesrepublik Jahr und Jahr 40000 Menschen an den Folgen von Alkoholmissbrauch. 2,5 Millionen Menschen in Deutschland gelten als Abhängige. Betroffen sind dabei nie nur die Trinker allein. Auch für die Kinder bedeutet Alkoholismus eine schwere Hypothek. Während die Jungen oft dazu neigen, später das Suchtverhalten des Vaters zu übernehmen, entwickeln die Mädchen häufig eine ähnliche „Sucht gebraucht zu werden" wie ihre Mütter. „Auch als Vorbild für unsere Töchter haben wir eine Verantwortung", appelliert sie. Sie, die selbst seit 20 Jahren keinen Tropfen Alkohol anrührt und deren Mann seit einem Jahrzehnt abstinent ist, möchte anderen Frauen Mut machen, Grenzen zu setzen. „Das bedeutet nicht, dass sie ihren Mann nicht lieben", schärft sie den verzweifelten Leidensgenosseninnen ein. Sie verhehlt nicht, dass es Fälle gibt, wo ein Mann, wenn eine Frau sich erst Hilfe gesucht hat, erst recht im Selbstmitleid versinkt und noch mehr trinkt. „Dann", so weiß sie, „braucht die Frau erst recht Rückendeckung". Allerdings habe sie dann ohnehin eine schwere Entscheidung zu treffen. Waltraud Strohalm und ihr Ehemann haben es geschafft. „Es war wert, sich durchzukämpfen", meint sie im RNZ-Gespräch. Auch ihre Partnerschaft ist gesundet. „Wir können heute über viele Dinge sprechen, über die wir früher nie gesprochen hätten". Aber auch Waltraud Strohalm hat sich verändert. „Ich halte nicht mehr alles unter Decke und sage viel eher, wie ich mich fühle". Kirsten Baumbusch
Alzheimer:
Liebe und Geborgenheit sind die beste Medizin (9.9.2000) Die schillernd-blaue Libelle umschwirrt den Gartenteich. Sacht streicht der warme Wind durch die Büsche des verwunschenen Gartens. Ein Planschbecken und ein bunter Ball zeugen davon, dass hier ein beliebter Treffpunkt für die Nachbarskinder ist. Kaum jemand aber würde glauben, dass in dieser Idylle auch eine schwerstkranke Alzheimer-Patientin zuhause ist. Obwohl in der Bundesrepublik mindestens 800 000 Menschen an der Demenz-Erkrankung leiden, sind sie im Bild der Öffentlichkeit noch immer kaum präsent. „Viele schämen sich einfach", weiß Rolf Esser. Der ehemalige Postbeamte pflegt seine kranke Frau seit mehr als zehn Jahren und hat dabei eines klar erkannt: „Liebe und Geborgenheit sind die beste Medizin". Und dazu gehört auch der schöne Garten. Und wenn er selbst damit überfordert war, dass seine geliebte Partnerin ihm in eine unbekannte Welt entglitt? „Eine Selbsthilfegruppe, das bringt viel", sagt der Pensionär. Das Gespräch mit Leidensgefährten ist ungemein wichtig für die Angehörigen von Alzheimer-Patienten, denn durch die Krankheit blättert der Bekanntenkreis meistens sehr schnell ab, und die Partner der Kranken sind mit ihrer Pflege weitgehend allein gelassen. Und dann gibt es so verzweifelte Situationen wie die, als Essers Frau Irmgard plötzlich begann, schreiend die Schränke der Wohnung auszuräumen. Sich da am Telefon mit jemandem austauschen zu können, der eine solche Situation schon einmal erlebt hat, dafür ist der gebürtige Wieblinger noch heute dankbar. Und heute wiederum hilft er anderen, mit den Klippen der Pflegeversicherung oder Versagensängsten vor der großen Aufgabe fertig zu werden. Die Heidelberger Gruppe trifft sich jeden zweiten Dienstag von 20 bis 22 Uhr im Gemeindehaus der Friedenskirche an der Tiefburg in Handschuhsheim. Informationen, auch zur Gründung einer Selbsthilfegruppe, gibt es über das Selbsthilfebüro, Telefon 0 62 21/18 42 90 oder bei Rolf Esser unter 0 62 24/7 15 72. Reagans Erkrankung ... Begonnen hat alles vor anderthalb Jahrzehnten. Beim Zählerablesen bemerkte Rolf Esser, dass seine Frau, mit der er seit vielen Jahren eine „tolle Ehe" führte und gemeinsam die halbe Welt im Wohnmobil bereist hatte, immer vergesslicher wurde. Anfangs glaubte Esser, dass das Phänomen möglicherweise mit der Aufgabe ihrer Erwerbstätigkeit als Telefonistin zusammenhängen könnte. Doch bald wurde es immer schlimmer. Irmgard Esser konnte nicht mehr allein sein, ihre Handarbeiten klappten nicht mehr, und auch bei der Hausarbeit lief nichts mehr zusammen. „Dieser Scheiß-Zucker taugt nicht, der geliert ja nicht", schimpfte sie einmal am Herd stehend und Marmelade kochend, und bemerkte nicht, dass sie die Herdplatte gleich nach dem Einschalten auch wieder ausschaltete. Als ihr Mann ihr das sagte, gab es einen schlimmen Streit. Solches sture Beharren darauf, Recht zu haben, kennen fast alle Angehörigen dieser Patienten. Dagegenhalten und argumentieren hilft überhaupt nichts, musste Esser lernen, liebevoll die Situation umgehen schon eher. „Wir verstehen mit unserem Verstand nicht, dass der andere uns nicht verstehen kann", bringt er das furchtbare Dilemma auf den Punkt. Für die Essers gab es die schreckliche Gewissheit dann 1992. „Demenz vom Typus Alzheimer" lautete die Diagnose im Mannheimer Zentralinstitut für Seelische Gesundheit, und für Rolf Esser war klar, „meine Frau wird nie mehr so sein wie früher". Die Krankheit anzunehmen, so sagt er im Rückblick, sei für alle der größte Schritt, und er sei wie alle erst einmal in ein großes Loch gefallen. Schließlich besorgte sich der tatkräftige Optimist aber Literatur, machte sich bei Ärzten kundig und schloss sich Selbstgruppen an. Obwohl er wusste, dass er sich so schnell nicht unterkriegen lassen würde, waren die nächsten Jahre hart. Außer Beruhigungsmitteln hatte die Medizin kaum etwas anzubieten. Das hat sich zwischenzeitlich ein bisschen gebessert. Nun gibt es zumindest Medikamente, die den Verfall des Geistes für ein bis zwei Jahre hinauszögern können. Die Forschung läuft auf vollen Touren „Für die Alzheimer-Patienten", so sagt Rolf Esser, „war es ein Glück, dass Ronald Reagan daran erkrankte". Erst dann brach das Tabu. Zunächst wachte Amerika auf und dann auch Europa. Still sitzt sie in ihrem Rollstuhl, die 70jährige Irmgard Esser mit den weißen, kurzen Haaren. Sprechen kann sie schon lange nicht mehr, ihre blauen Augen wandern unruhig umher, ihr ehemals so quicklebendiger Geist scheint irgendwo ganz weit weg zu sein. „Sie leben in ihrer eigenen Welt", hat Rolf Esser in den vergangenen 15 Jahren gelernt, „und da geht alles nach dem Gefühl". Und tatsächlich, es ist fast spürbar, wie sich die zarte Frau entkrampft, wenn ihr Mann sie freundlich anspricht oder ihr kurz über den Arm streichelt. Andererseits kann die Kranke aber auch der Anblick eines dunklen Tannenwaldes oder einer steilen Stufe in wilde Ängste versetzen. Mit die größte Furcht empfinden Alzheimer-Patienten nach der Erfahrung von Rolf Esser vor dem Alleinsein. Deshalb unternimmt er so viel wie möglich mit seiner Frau zusammen. Bis vor wenigen Jahren waren die beiden jeden Tag etliche Kilometer zu Fuß zwischen Leimen und Nußloch unterwegs. Ob Einkaufen, Restaurant oder Vereinsfeste, sogar ein gemeinsamer Urlaub ist möglich, wenn der Rahmen stimmt und für die Betreuung gesorgt ist. Einmal war Rolf Esser sogar mit zwei Leidensgefährtinnen und deren Partnern in Todtnauberg richtig in Ferien. ...... brach das Tabu Vielsagende Blicke, wenn ein Kranker unverständlich brabbelt oder Hilfe beim Trinken braucht, nimmt er nicht einfach hin, sondern klärt die Leute dann in seiner freundlichen Art in wenigen Sätzen auf. „Eine dumme Antwort habe ich noch nie erhalten", freut er sich. Ob er die Pflege seiner Frau bis ganz zum Schluss durchhält, kann auch Rolf Esser noch nicht sagen, obwohl er es fest vorhat. Dass nicht jeder die Kraft, den Optimismus und die körperliche Konstitution hat, diese schwere Aufgabe anzunehmen, weiß Rolf Esser. Manchmal, so räumt er ein, ist ein Heimaufenthalt dann die einzige Möglichkeit. „Wir lachen noch zusammen", sagt er, wenn jemand ihn skeptisch fragt, was er denn noch von dieser einseitigen Beziehung habe. Dann zeigt er noch Fotos aus den letzten Jahren, die sie beide in inniger Fröhlichkeit zeigen und den Betrachter kaum etwas von der schlimmen Krankheit ahnen lassen. Und leise fügt er an: „Ich weiß, sie hätte das Gleiche auch für mich gemacht". Kirsten Baumbusch
C-Zellenkarzinom:
Leben mit tückischer Krankheit (15.9.2000)
Messies:
Die verzweifelte Suche nach dem roten Faden (8.4.2000)
Parkinson: Der Krankheit so viel wie irgend möglich abtrotzen (2.9.2000) Papst Johannes Paul II. ist wohl de bekannteste Parkinson-Patient der Welt. Auch in Heidelberg und der Region leiden etliche Menschen an dieser tückischen Krankheit. Einige von ihnen haben sich in einer Selbsthilfegruppe zusammengschlossen, um sich gegenseitig zu stützen.
„Als ich die Diagnose Parkinson hörte, war ich wie vom Donner gerührt", erinnert er sich an den Dezember 1997. Gisbert Müller sah sich im Geiste schon von Krämpfen geschüttelt vor dem Fernsehsessel versauern. Nie mehr auf den Kirschbaum steigen und nie mehr Wasserski fahren, schien das Urteil zu lauten. „Stellen Sie sich vor, wie es ist, wenn Sie
aufstehen wollen und der Körper nicht mitmacht. Oder wenn Sie eine Tasse zum
Mund führen und die haltende Hand nicht unter Kontrolle zu bringen ist",
so beschreibt Walter Rohrmann die Lebensrealität viele seiner Schützlinge.
Rund 80 Betroffene haben sich in Heidelberg in der Selbsthilfegruppe
zusammengeschlossen. Sie treffen sich jeden zweiten Dienstag im Monat um 14:30
Uhr, in der AOK-Verwaltung, Friedrich-Ebert-Platz 3. Die Gruppe gibt es seit
1982. Damit dürfte sie eine der ältesten in ganz Deutschland sein. Jeden
Freitag findet außerdem von 15 bis 16 Uhr eine Gruppengymnastik im Sankt
Josefs-Krankenhaus statt. Informationen gibt es bei Walter Rohrmann unter
Telefon Der frühere Verwaltungsdirektor des Krankenhauses Speyerer Hof ist selbst kein Betroffener, hat sich dieser Aufgabe aber in seinem Ruhestand verschrieben. „Es ist eine furchtbare Krankheit", sagt Rohrmann. Viele schämen sich, werden menschenscheu, obwohl selbst so prominente Menschen wie der Papst an Parkinson leiden und so eigentlich das Tabu gebrochen werden sollte. Ursache ist ein Mangel an Dopamin. Vereinfacht dargestellt, übermittelt Dopamin Befehle des Nervensystems an die Muskulatur und dieser Botenstoff ist bei den Parkinson-Patienten rar geworden. Noch gibt es zwar keine endgültige Heilung, aber die medikamentösen Möglichkeiten sind im letzten Jahrzehnt sehr viel besser geworden. Allerdings reagiert nicht jeder Betroffene auf die jeweiligen Medikamente gleich. Hier, so hat Walter Rohrmann immer wieder erlebt, helfen in der Gruppe nicht nur die Vorträge von Ärzten, sondern auch der Erfahrungstausch. Parkinson, auch Schüttellähmung oder im Fachjargon Paralysis agitans genannt, ist eine neurologische Erkrankung, von der in Deutschland etwa 200000 Männer und Frauen betroffen sind. Die ersten Anzeichen sind meist ein Zittern, auch Tremor genannt, das durch den Willen nicht beeinflusst werden kann. Es beginnt häufig an einer Hand, einem Arm oder einem Bein. Ein weiteres Symptom, die Muskelsteifigkeit - auch Rigor genannt - äußert sich in schmerzhaften Dauerverkrampfungen. Bewegungen können nur mühsam gegen den Widerstand der verkrampften und verspannten Muskeln ausgeführt werden. Die Bewegungen wirken abgehackt und starr. Die Mimik, die ja auch eine Muskelbewegung ist, wird ebenfalls eingeschränkt. Das Antlitz erstarrt zur Maske. Beim Sprechen und Schreiben tauchen oft erhebliche Schwierigkeiten auf. Die Sprache wird monoton und unverständlich. Dazu kommt das vom Patienten nicht zu steuernde Schütteln. Mit den motorischen Symptomen der Krankheit gehen oft auch psychische Veränderungen einher, Depressionen sind nicht selten. Der bekannteste Parkinson-Patient der Welt dürfte derzeit wohl der Papst Johannes Paul II. sein. Dass er nicht aufgibt, macht auch vielen anderen Betroffenen Mut. Wer rastet, der rostet, das gilt für diese Kranken besonders und deshalb ist Bewegung für sie das Wichtigste. Gisbert Müller könnte hier als Paradebeispiel gelten. „Wenn man es nicht weiß, sieht man es nicht mehr", sagt seine Frau heute. Zwischen damals und heute liegt eine schlimme Zeit und viel Zähnezusammenbeißen. Nachdem ein Neurologe das L-Dopa-Präparat zunächst um ein Vielfaches überdosiert hatte, ging es Gisbert Müller richtig schlecht. Auf weißen Wänden sah er rote Netze, ihm war so übel, dass er keinen Bissen mehr hinunterbrachte. Zeitweilig war er ohne Orientierung. Einmal verlief er sich bei Dunkelheit im eigenen Haus. Er wurde so schwach, dass seine Frau um sein Leben fürchtete. Ein Arztwechsel, eine drastische Reduktion der Dosis und ein anderes Medikament ließen all diese schrecklichen Symptome abklingen. Dass Gisbert Müller auch die Parkinson-Erkrankung zum Stillstand gebracht hat, liegt aber noch an etwas anderem. Zum einen wurde die Krankheit in einem Frühstadium erkannt, zum anderen hat er eine Physiotherapeutin gefunden, die nicht nur die übliche Parkinson-Gymnastik kennt, sondern ihn immer ganz individuell bis ans Limit fordert. Sie hilft ihm, seine Haltung zu stabilisieren, sich auf komplizierte Bewegungsabläufe zu konzentrieren und sein Gleichgewicht zu halten. Der ehrgeizige Patient machte dabei gewaltige Fortschritte. Die maßgeschneiderte Einzelgymnastik zusätzlich zur Gruppengymnastik ist unabdingbar, lautet sein zuversichtliches Credo und er appelliert an seine Leidensgefährten: „Sagen Sie bloß nicht, mir geht’s schon schlecht, das hat keinen Zweck". Die Krankheit als Herausforderung annehmen, ihr so viel abtrotzen wie möglich, lautet seine Devise. Übrigens: Wasserski fährt er auch wieder. Kirsten Baumbusch
Straßenkinder:
Mütter von Straßenkindern machen mobil (RNZ, 31.3.2000) Doch so einfach wegwischen lässt sich das Phänomen der Straßenkinder nicht. Denn hinter jedem dieser Jugendlichen steckt nicht nur ein individuelles Schicksal, sondern auch ein Paar oft verzweifelter Eltern. Sabine Leitmüller und Dorothea Fiebig (Namen von der Redaktion geändert) aus Heidelberg sind Mütter solcher Straßenkinder und sie haben sich nun entschlossen, das Tabu zu brechen und eine Selbsthilfegruppe zu gründen. Noch immer will nämlich kaum jemand glauben, dass es nicht zwangsläufig asoziale Verhältnisse sind, denen diese Kinder entstammen und das nicht zwangsläufig die Eltern daran schuld sind, wenn der Sprößling entgleitet. „Es kann jeden treffen", betont Sabine Leitmüller und Scheuklappen verhindern womöglich, das Abdriften des eigenen Kindes rechtzeitig wahrzunehmen. Allen betroffenen Müttern und Vätern gemeinsam sind Phasen der Verzweiflung, die Angst, die Hilflosigkeit, die Ohnmacht und manchmal die Wut. Deshalb haben sich die beiden Frauen entschlossen, sich mit anderen Betroffenen zusammenzuschließen. „Eltern von Straßenkindern, oder solchen, die es werden könnten", treffen sich jeden Montag um 20 Uhr im Selbsthilfebüro, Alte Eppelheimer Straße 38, Telefon 18 42 90. Per Internet sind sie unter www.selbsthilfe-info.de zu erreichen. „Geht Dein Kind unregelmäßig oder gar nicht mehr zur Schule und versucht es, durch Weglaufen Probleme zu lösen. Lebt es zeitweise oder ganz auf der Straße, macht es, was es will und Du hast keinen Einfluss mehr oder ist es schon mit Drogen in Berührung gekommen?" So lauten die Problemfelder, die auch Sabine Leitmüller und Dorothea Fiebig betreffen und wo sie Leidensgenossen nun Unterstützung geben wollen. „Wir werden nicht wahrgenommen, allenfalls wird mit Fingern auf uns gezeigt", berichten sie von ihren Erfahrungen. Während es für die Kinder ein vielfältiges Netz der Hilfe gibt, das sie annehmen könnten, wenn sie nur wollten, gibt es für die Eltern bislang so gut wie kein Verständnis, geschweige denn Unterstützung. „Wir rennen gegen Wände", sagt Dorothea Fiebig. Es sind nicht nur die durchwachten Nächte, wenn das minderjährige Kind nicht nach Hause kommt und der ständige Ärger mit der Schulschwänzerei. Partnerschaften und Familien zerbrechen und der Job leidet, wenn die Gedanken nur noch darum kreisen, warum einem dieses, doch so geliebte Kind zu entgleiten droht. Vielen Eltern von Straßenkindern bleibt schließlich nur ein furchtbarer Schnitt. „Sie haben nur zwei Möglichkeiten", sagte ein Arzt zu Sabine Leitmüller, als sie nach einem Zusammenbruch mehrere Wochen in der Klinik lag, „entweder Sie verharren mit ihrer Tochter in einem Boot, dann gehen Sie irgendwann gemeinsam unter, oder Sie steigen aus und laufen Gefahr, vom Uferrand zuschauen zu müssen, wie Ihr Kind untergeht". Sabine Leitmüller hat sich zum Aussteigen entschlossen. Doch das Band zwischen Mutter und Kind lässt sich nicht so leicht durchtrennen. „Ich schlafe jeden Abend mit meiner Tochter ein und stehe jeden Morgen mit ihr auf", beschreibt sie dieses Gefühl. Hilflos sieht sie mit an, wie ihr inzwischen volljähriges Kind „Selbstmord auf Raten begeht". „Lebt sie noch?", das ist auch die Frage, die sich Dorothea Fiebig immer wieder stellt, wenn ihre 15jährige Tochter einmal wieder abgehauen ist und irgendwo in der Republik auf der Straße lebt. Die junge Frau mit dem Strubbelkopf hat das „Boot" noch nicht verlassen, sie paddelt noch, auch wenn sie heute schon fürchtet, dass es vergeblich sein könnte. Die Gründe, warum junge Menschen auf der Straße landen, sind so unterschiedlich wie das Leben selbst. Ein einschneidendes persönliches Erlebnis wie sexueller Missbrauch, ein furchtbarer Scheidungskrieg, eine instabile Persönlichkeit, der Leistungsdruck in der Schule, Angst vor der Zukunft und irgendwann verknüpft sich das alles zum Wunsch, bloß weg hier. 1500 Kinder leben allein in der Bundeshauptstadt Berlin auf der Straße, im Mannheim sind es rund 250, in Heidelberg dürften es um die fünfzig sein. Gerade einmal zwei Stunden darf die Polizei Minderjährige festhalten, wenn sie sie als Straßenkinder aufgegriffen hat. Dann holen die Eltern sie ab und der Kreislauf beginnt häufig von vorne. „Zwischen 14 und 18 Jahren ist so eine Grauzone", erklärt Sabine Leitmüller das rechtliche Problem, „da haben die Jugendlichen unheimlich viel Freiheit, aber keine Pflichten". Anders als vor ein paar Jahrzehnten, so ihre Theorie, wird Schuleschwänzen heute allenfalls lax geahndet, Rauchen ist schon bei Zwölfjährigen normal und wem es zu Hause nicht passt, der geht einfach nicht mehr hin und landet schlimmstenfalls in einer betreuten Wohngruppe. „Egal, was sie machen, es hat keine Konsequenzen", unterstreicht auch Dorothea Fiebig. Verändert habe sich nicht nur die Gesetzeslage, sondern auch die Gesellschaft. Die Schere zwischen Kindern, die alles haben und solchen, die nichts haben, klafft ihrer Ansicht nach immer mehr auseinander. Schon Grundschüler wissen heute, dass
sie kaum Chancen im Leben haben, wenn sie das Gymnasium nicht packen.
Wenn dann Bewerbung um Bewerbung geschrieben und trotzdem keine Zukunft
in Sicht ist und womöglich noch die Pubertät das Verhältnis zu den
Eltern getrübt hat, dann ist die Faszination des abenteuerlichen
Straßenlebens ziemlich groß. Und dieser Zug, so wissen die beiden
mutigen Frauen, ist dann kaum noch aufzuhalten und mündet nicht selten
in der Drogenabhängigkeit und der Obdachlosigkeit. Trotzdem wollen sie
nicht aufgeben und haben sich entschlossen, anderen, betroffenen Eltern
Mut zu machen und sich mit ihnen zusammenzuschließen.
Telefonseelsorge: Es tut gut, es sich von der Seele zu schreiben Bei der Telefonseelsorge im Internet ist auch
Heidelberg mit von der Partie – „Es tut gut, es sich von der Seele zu schreiben." Diese Erfahrung machten nicht nur die Literaten vergangener Jahrhunderte, sondern auch ganz viele Internet-Nutzer der Neuzeit. Als sich die Niederlassung Heidelberg der Telefonseelsorge Rhein-Neckar im August 1999 entschloss, auch über dieses neue elektronische Medium die bewährte Krisenintervention anzubieten, hatte keiner mit einem solchen Andrang gerechnet. Mehr als 1600 elektronische Briefe sind allein
im vergangenen Jahr zwischen den acht Beraterinnen und Beratern sowie den
Hilfesuchenden hin- und hergegangen. Bundesweit sind es bei den 14 Stellen der
Telefonseelsorge sogar 5100 Mail-Kontakte, und das mit rasant steigender
Tendenz. Kein Wunder, in Deutschland verfügen zwischenzeitlich mehr als 18
Millionen Menschen über einen Internetanschluss. So ist es möglich, dass alle Anfragen binnen 48 Stunden qualifiziert und inhaltlich fundiert beantwortet werden und jeder davon ausgehen kann, dass seine „Gesprächspartnerin" oder sein „Gesprächspartner" auch alle nachfolgenden Mails beantwortet. Anders als beim Telefonkontakt ist die Internet-Beratung nämlich nicht nur niederschwelliger, sondern auch oft auf längere Zeit hin angelegt. Und es ist gelungen, Menschen anzusprechen, die den Zugang zur „klassischen" Telefonseelsorge wohl kaum gefunden hätten. Wer über E-Mail Rat sucht, ist zumeist unter 30 Jahre alt und lebt allein. Stark aufgeholt haben die Frauen. Waren sie
erst in der Minderzahl, so stellen sie heute zwei Drittel der Ratsuchenden per
Internet. Manche von ihnen berichten in der geschützten Umgebung der
elektronischen Post an die Telefonseelsorge zum ersten Mal über
fürchterliche Misshandlungen oder Vergewaltigungen. Auch die ersten ehrenamtlichen Mitarbeiter beim
neuen Service, von denen sieben von Anfang an dabei sind, hatten keine
Berührungsängste. Sie kommen aus den verschiedensten Berufen und sind
zwischen Anfang 20 und über 70 Jahre alt. „Die elektronische Post wechselt in recht
rascher zeitlicher Abfolge hin und her", beschreibt Ursula Bieber-Buckert
deren Eigenart, oft gibt es eine beträchtliche Diskrepanz zwischen einem
lockeren Stil und einem enormen Verzweiflungsgehalt. Stark genützt wird dieses Internet-Angebot auch von Jugendlichen, die sich selbst Schmerz zufügen oder drohen, im Strudel „schwarzer" Internet-Kontakte unterzugehen, die sich mit Selbsttötung beschäftigen. Das ist eine richtige Sucht, sich mit Suizid zu beschäftigen, sagt Ursula Bieber-Buckert. Grund für die Todesfaszination ist vermutlich eine große Sinn- und Orientierungslosigkeit der jungen Menschen. Gemeinsam ist allen Ratsuchenden ihr großes Vertrauen gegenüber einer seriösen Institution, die es seit mehr als 45 Jahren gibt. Auch und weil sie sich gerade auf den Weg in die Zukunft gemacht hat. Stichwort: Telefonfürsorge Kirsten Baumbusch, RNZ vom 26.4.2001
Selbsthilfegruppen Freiburg und
Hochschwarzwald ©
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